Wie die AstraZeneca-Kontroverse die COVID-19 Impfempfehlungen von medizinischen Fachkräften beeinflusst

Eine frühere Version des Beitrags wurde am 7. Juni 2021 unter dem Titel „How German health workers’ views on vaccine safety can be swayed by the AstraZeneca controversy” im LSE COVID-19 Blog der London School of Economics auf Englisch publiziert.1
An earlier version of this post was published in English on June 7, 2021, under the title “How German health workers’ views on vaccine safety can be swayed by the AstraZeneca controversy” on the LSE COVID-19 blog at the London School of Economics.2
Gesundheitsfachkräfte können mit ihren Meinungen und Empfehlungen einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der COVID-19 Impfbereitschaft leisten. Inwiefern Gesundheitsfachkräfte COVID-19 Impfungen empfehlen, welchen Impfstoff sie präferieren und inwieweit ihre Impfempfehlungen von öffentlichen Debatten beeinflusst werden, wurde bislang nicht näher erforscht. Um Licht auf diese Fragen zu werfen, haben wir ein Experiment zur Informationsverarbeitung in einer Online-Befragung implementiert. Die Ergebnisse legen nahe, dass die teils kontroversen Debatten um AstraZeneca die Impfstoffempfehlungen erheblich beeinflussen. Da die effiziente Umsetzung einer Impfkampagne davon abhängt, dass die Menschen verschiedene Impfstoffe akzeptieren, könnte die Kontroverse um AstraZeneca den Impffortschritt in Deutschland verlangsamt haben.
Health professionals can make an important contribution to increasing COVID-19 vaccination uptake through their opinions and recommendations. The extent to which health professionals recommend COVID-19 vaccination, which vaccine they prefer, and the extent to which their vaccination recommendations are influenced by public debates has not yet been explored in detail. To shed light on these questions, we implemented an information processing experiment in an online survey. The results suggest that the sometimes controversial debate surrounding AstraZeneca influence vaccine recommendations. Because the efficient implementation of a vaccination campaign depends on the acceptance of different vaccines, the AstraZeneca controversy may have slowed vaccination progress in Germany.
DOI: 10.34879/gesisblog.2021.46
In Deutschland sind gegenwärtig mehrere Impfstoffe gegen COVID-19 zugelassen. Die Eindämmung der Pandemiehängt hängt maßgeblich von der Bereitschaft der Bevölkerung ab, sich mit einem dieser Impfstoffe immunisieren zu lassen. Fachkräfte im Gesundheitswesen können wie nur wenige andere Einfluss auf die Impfentscheidung vieler Menschen nehmen und damit zum Erfolg der Impfkampagne beitragen. In diesem Beitrag zeigen Jan Priebe (Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien), Henning Silber, Christoph Beutner, Steffen Pötzschke, Bernd Weiß und Jessica Daikeler (GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften), wie sich die Empfehlungen von medizinischen Fachkräften ändern, wenn sie unterschiedliche Informationen über die Impfstoffe erhalten.
Der Erfolg der COVID-19-Impfkampagnen hängt von der raschen und umfassenden Akzeptanz der Impfstoffe in der Allgemeinbevölkerung ab. Nachdem verschiedene Arten von Impfstoffen zwischenzeitlich in fast allen europäischen Ländern leicht erhältlich sind, verlagert sich der Fokus der Politik auf Hemmnisse, die auf der Nachfrageseite, also in der impfberechtigten Bevölkerung, angesiedelt sind. Besonders Impfskepsis ist hier ein Problem. Um die Impfquoten zu steigern, bauen Regierungen auf Aufklärungskampagnen, die verschiedene Personengruppen mit Multiplikatorenfunktion (Gesundheitsexpert:innen, Prominente, Vertreter:innen unterschiedlicher Religionsgruppen), Kanäle (Medien, Gesundheitseinrichtungen, religiöse Institutionen) und Themen (die Risiken einer möglichen Erkrankung und die Sicherheit der Impfstoffe) einsetzen.
Die Wirksamkeit dieser Kampagnen hängt unter anderem vom Vertrauen in die und dem Zugang zu den bereitgestellten Informationen ab. Beispielsweise können Kampagnen ihre Wirkung verfehlen, wenn mediale Zugangswege gewählt werden, die bestimmten Personengruppen nicht erreichen, oder wenn die medial vermittelten Inhalte auf ein grundsätzliches Misstrauen stoßen (Stichwort „Lügen- oder Systempresse“). In diesem Kontext können Fachkräfte des Gesundheitssektors, wie Krankenpfleger:innen, Rettungssanitäter:innen, Ärzt:innen und Gesundheitsbeamte, eine wichtige Rolle spielen. Sie haben direkten Zugang zu Patient:innen, besitzen die nötige Erfahrung und gelten oft als vertrauenswürdig. Sie befinden sich somit in der Position, informelle Ratschläge anbieten zu können, die ihre Patienten, Freunde, Familie sowie die breitere Öffentlichkeit beeinflussen können.
Obwohl medizinisches Fachpersonal eine wichtige Säule der Impfkampagne darstellt, ist nur wenig darüber bekannt, welche Impfempfehlungen von ihm tatsächlich gegeben wird. Informelle Ratschläge des Gesundheitspersonals können aus einer Vielzahl von Gründen von öffentlichen Empfehlungen abweichen. Erstens sind Gesundheitsfachkräfte eine hochselektive Population, die (i) ein intrinsisches Interesse an Gesundheitsthemen hat, (ii) eine umfassende Unterweisung über den Nutzen und die Risiken von Impfstoffen erhalten hat und (iii) während ihrer Arbeit einem hohen Risiko ausgesetzt ist, sich mit COVID-19 anzustecken. Zweitens stehen Gesundheitsfachkräften – wie allen anderen Bürgern auch – bei der eigenen Meinungsbildung vielfältige Informationsquellen zur Verfügung. Das bedeutet, sie können durch Fehlinformationen, selektive Informationsaufbereitung und die öffentliche Debatte beeinflusst werden.
Um die Akzeptanz der Gesundheitsfachkräfte gegenüber den verschiedener COVID-19 Impfstoffen zu messen und zu verstehen wie deren Ansichten durch die öffentliche Debatte über die Vorzüge und Risiken eines bestimmten Impfstoffs beeinflusst werden, haben wir ein Experiment zur Informationsverarbeitung implementiert. Dieses Experiment war Teil einer Online-Umfrage in Deutschland. Die Befragung richtete sich an medizinische Fachkräfte und wurde zwischen April und Mai 2021 durchgeführt. Teilnehmende wurden mithilfe von Werbeanzeigen auf den sozialen Netzwerken Facebook und Instagram rekrutiert. In diesem Kontext wurden 3.318 Gesundheitsfachkräfte gefragt, ob sie einen von sechs COVID-Impfstoffe weiterempfehlen würden (AstraZeneca, Johnson & Johnson, Moderna, Pfizer/BioNTech, Sinopharm und Sputnik V). Die Beantwortung erfolgte auf einer siebenstufigen Skala von „unwahrscheinlich“ bis „sehr wahrscheinlich“.
Für das Experiment wurden die Befragten jeweils zufällig der Kontrollgruppe oder einer von vier Interventionsgruppen zugeteilt. Befragte in den Interventionsgruppen erhielten je nach Gruppenzugehörigkeit die folgenden Informationen, bevor sie nach ihren Impfempfehlungen gefragt wurden:
Gruppe 1: Wissenschaftliche Debatte über AstraZeneca (AZ)
Die Teilnehmer:innen in dieser Gruppe wurden mit Argumenten und der Debatte konfrontiert, die dazu führte, dass die deutschen Behörden die Impfungen mit AstraZeneca aussetzten. Kurze Zeit später hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) die Sicherheit des Impfstoffs erneut bestätigt.
Gruppe 2: Fehlinformation und Verschwörungsmythen
Die Teilnehmer:innen in dieser Gruppe erhielten Informationen, die typische Argumente von Verfechtern von Verschwörungsmythen in den Vordergrund rücken; zum Beispiel, dass COVID-Impfungen Krebs verursachen können oder die Impfstoffe nicht ausreichend getestet worden seien.
Gruppe 3: Eigene Gesundheit
Die Teilnehmer:innen in dieser Gruppe erhielten wissenschaftliche Informationen zu den möglichen negativen Folgen einer COVID-Infektion. Es wurde hervorgehoben, dass Impfungen die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs der Erkrankung reduzieren können.
Gruppe 4: Gesundheit der Bevölkerung
Die Teilnehmer:innen in dieser Gruppe wurden über die rasche Ausbreitung des Virus in Deutschland informiert. Die hohe Ansteckungsgefahr und die potenziellen schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit anderer wurden betont.
Gruppe 5: Kontrollgruppe
Die Teilnehmer:innen in dieser Gruppe erhielten keine zusätzlichen Informationen, bevor sie nach ihren Impfstoffempfehlungen gefragt wurden.
Abbildung 1 zeigt die Wahrscheinlichkeit, dass Gesundheitsfachkräfte in der Kontrollgruppe (also ohne Bereitstellung von zusätzlichen Informationen) einen der sechs Impfstoffe empfehlen würden. Dabei zeigt sich, dass sowohl Frauen als auch Männer die Impfstoffe von Pfizer/BioNTech und Moderna mit großer Wahrscheinlichkeit weiterempfehlen würden. Die Bereitschaft, Johnson & Johnson oder AstraZeneca zu empfehlen, bewegte sich auf einem mittleren Niveau. Das Schlusslicht bildeten Sputnik V und Sinopharm, die am seltensten empfohlen werden würden. Bei Männern war (bei allen sechs Impfstoffen) eine geringfügig höhere Wahrscheinlichkeit zu beobachten, dass sie den betreffenden Impfstoff weiterempfehlen würden. Dieser Effekt war besonders deutlich für AstraZeneca erkennbar, möglicherweise aufgrund der öffentlichen Debatte in Deutschland, die mögliche Nebenwirkungen des Impfstoffs bei jungen Frauen herausstellte.

Als nächstes untersuchten wir, wie die verschiedenen Arten von bereitgestellten Informationen, die Empfehlungen der Teilnehmenden beeinflussten (siehe Abbildung 2). Das Gesundheitspersonal erwies sich als ausgesprochen empfänglich für die Informationen zu AstraZeneca (Gruppe 1). Sowohl Männer als auch Frauen waren in deutlich geringerem Ausmaß bereit, AstraZeneca weiterzuempfehlen. Außerdem ließen sich teils geschlechtsspezifische „Spill-Over“-Effekte in der Experimentalgruppe mit Informationen zu AstraZeneca feststellen. Die Weitergabe von objektiven Informationen über die AstraZeneca-Debatte an das weibliche Gesundheitspersonal verringerte nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen Impfstoff empfehlen würden, sondern wirkte sich auch auf jene Impfstoffe aus, die zum Zeitpunkt der Befragung in Deutschland weniger etabliert waren (Johnson & Johnson, Moderna, Sinopharm, Sputnik V). Darüber hinaus entwickelten weibliche Gesundheitsfachkräfte eine stärkere Präferenz für den Impfstoff von Pfizer/BioNTech. Beim männlichen Gesundheitspersonal waren derartige „Spill-Over“-Effekte auf andere Impfstoffe weniger stark ausgeprägt oder nicht zu beobachten. Bemerkenswert ist, dass die Gesundheitsfachkräfte auf keine der anderen bereitgestellten Informationen ansprachen. Zwar deuten letztere Ergebnisse darauf hin, dass das Gesundheitspersonal unempfänglich für Verschwörungsmythen ist, sie zeigen jedoch auch die Grenzen von Impfkampagnen auf, die an die Sorge der Menschen um ihre eigene und die Gesundheit anderer Personen appellieren.

Die Ergebnisse unserer Studie legen nahe, dass Gesundheitsfachkräfte von Fehlinformationen und Verschwörungsmythen weitgehend unbeeindruckt bleiben. Nichtsdestotrotz scheint die Debatte rund um den Impfstoff von AstraZeneca ihre Impfstoffempfehlungen erheblich zu beeinflussen. Der wissenschaftliche und politische Diskurs über den Impfstoff von AstraZeneca hat nicht nur die Bereitschaft der Menschen reduziert, sich mit diesem Vakzin impfen zu lassen, sondern hatte möglicherweise auch „Spill-Over“-Effekte auf andere, weniger etablierte Impfstoffe wie die von Johnson & Johnson und Moderna. Da die schnelle und effiziente Umsetzung einer Impfkampagne davon abhängt, dass die Menschen verschiedene Impfstoffe akzeptieren, könnte die Kontroverse um AstraZeneca die Möglichkeiten der Regierung eingeschränkt und damit den Impffortschritt verlangsamt haben.
Die Ergebnisse sind Teil eines Forschungsprojekts, das die Auswirkungen der COVID-19-Krise auf das Leben und die Arbeit von Beschäftigten im deutschen Gesundheitswesen untersucht.
Anmerkungen/Notes
- Die Autor:innen danken Emma Link für Ihre Unterstützung bei der Übertragung des Beitrags ins Deutsche.
- The authors would like to thank Emma Link for her assistance in translating the article into German.
- Die Abbildung zeigt, wie sich die verschiedenen bereitgestellten Informationen auf die Impfstoffempfehlungen des Gesundheitspersonals auswirken. Der Effekt von jeder Information (Gruppe 1-4) wird jeweils mit der Kontrollgruppe verglichen. Die horizontalen Linien zeigen die 95%-Konfidenzintervalle an. Befinden sich der Punktschätzer und das Konfidenzintervall links von der vertikalen roten Linie, hatte die Intervention mit der entsprechenden Information einen negativen Effekt auf die Impfstoffempfehlung. Befinden sich der Punktschätzer und das Konfidenzintervall rechts von der vertikalen Linie, hatte die Intervention mit der entsprechenden Information einen positiven Effekt auf die Impfstoffempfehlung.
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