Verändern sich Effekte individueller Religiosität auf Einstellungen durch die Säkularisierung?

Man könnte meinen, mit dem Rückgang individueller Religiosität im Säkularisierungsprozess verschwinden auch die Effekte der Religiosität auf Einstellungen und Verhalten. Dieser Befund ist in der Forschung allerdings umstritten. Denn es gibt Hinweise darauf, dass die Effekte individueller Religiosität in Folge der Säkularisierung sogar zunehmen.
One might think that with the decline of individual religiosity in the secularization process, the effects of religiosity on attitudes and behavior would also disappear. However, this finding is disputed in research. There is evidence that the effects of individual religiosity actually increase as a result of secularization.
DOI: 10.34879/gesisblog.2021.32
Der Rückgang individueller Religiosität in Deutschland (Meulemann, 2015) und vielen anderen West- und Südeuropäischen Staaten gehört mit zu den sichtbarsten Prozessen sozialen Wandels (Pollack & Rosta, 2015; Voas, 2009). In den 1980er Jahren war die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche noch der Normalfall in der Westdeutschen Gesellschaft. Seither verlieren die Kirchen kontinuierlich Mitglieder. Noch deutlicher zeigt sich der Rückgang beim sonntäglichen Kirchenbesuch. Nur eine Minderheit nimmt noch an Gottesdiensten teil oder engagiert sich in der Gemeinde (Siegers, im Erscheinen). Im Osten Deutschlands ist diese Situation noch ausgeprägter, hier stellen auch die Kirchenmitglieder schon lange eine Minderheit dar (Stolz, Pollack, De Graaf, & Antonietti, 2020).
Für Religionssoziologen stellt sich die Frage, ob der Rückgang der individuellen Religiosität auch die Effekte von Religiosität auf Einstellungen und Verhalten verändert. Denn obwohl Religiosität im Aggregat zurückgeht, bleib sie ein wichtiger Prädiktor in empirischen Analysen. Religiosität korreliert zum Beispiel mit moralischen Einstellungen (Halman & van Ingen, 2015), sie beeinflusst das Wahlverhalten (P. Siegers, Franzmann, & Hassan, 2016; P. Siegers & Jedinger, 2020) und auch biographische Entscheidungen religiöser Menschen unterscheiden sich von denen Nicht-religiöser (McQuillan 2004). Aber werden diese Einflüsse im Zuge der Säkularisierung verschwinden (Bruce, 2006)?
Es liegt nahe, das zu vermuten. Schon in den 1970er Jahren wurde die Theorie moralischer Gemeinschaften entwickelt, um besser zu verstehen, warum die Korrelation zwischen Religiosität und abweichendem Verhalten regional sehr unterschiedlich ausfällt (Stark, Doyle, & Kent, 1980). In Gegenden, in denen die Religiosität im Durchschnitt stärker ausgeprägt war, war auch der Zusammenhang stärker. Das Argument der “moralischen Gemeinschaften” nimmt darauf Bezug. Die Annahme ist, dass Religiosität dann Effekte hat, wenn kirchliche Lehren zu Leitlinien für die Herausbildung von Einstellungen und Handeln werden. Dies ist besonders wahrscheinlich, wenn Abweichungen von der religiösen Norm zusätzlich durch die Gemeinschaften sanktioniert werden. Soziale Sanktionen wiederum sind dann besonders wirksam, wenn viele Menschen religiös sind. In säkularen Gesellschaften hingegen fehlt diese Möglichkeit einer effektiven Sanktionierung, so dass religiöse Normen nicht mehr das Handeln prägen. Auch nicht das Handeln der religiösen Menschen.
Eine Reihe von international vergleichenden Studien vor allem zu moralischen Einstellungen von Individuen zeigen tatsächlich, dass diese Muster existieren (P. Siegers, 2019).
Allerdings ist der Befund umstritten, weil auch Ergebnisse vorliegen, die einen umgekehrten Zusammenhang nahelegen. In einer ebenfalls international vergleichenden Studie wurde gezeigt, dass der Effekt von Religiosität auf abweichendes Verhalten und moralische Einstellungen vor allem in solchen Ländern stärker ausfällt, in denen die Norm, religiös zu sein, geringer ist – die also im Mittel säkularisierter sind (Stavrova & Siegers, 2014). Dieser Befund ist den Studien zur Theorie moralischer Gemeinschaften also diametral entgegengesetzt. Die theoretische Begründung für diesen Befund beruht auf Allports Unterscheidung intrinsischer und extrinsischer Motive für die individuelle Religiosität (Allport & Ross, 1967). Die extrinsische Religiosität beruht dabei auf Kosten-Nutzen-Erwägungen der Individuen. Sie sind religiös, weil sie davon auf die eine oder andere Art profitieren. Zum Beispiel, weil sie in den Gemeinden gleichgesinnte soziale Kontakte finden, oder Rituale ihnen helfen, ihren Alltag zu meistern. Allport argumentierte, dass extrinsische Religiosität jedoch nicht zur Leitlinie für Handeln und Einstellungen von Individuen werde. Ganz anders verhalte es sich im Falle einer intrinsisch motivierten Religiosität, bei der die Inhalte des Glaubens unmittelbare Orientierung für die Einstellungsbildung und das Handeln der Menschen sind, weil intrinsisch religiöse Individuen die Glaubenslehren als wahr und richtig ansehen. Diese These intrinsischer Religiosität geht davon aus, dass in Gesellschaften, in denen Religion aus der freien Wahl der Individuen hervorgeht (Taylor, 2007), intrinsische Motive auf Kosten extrinsischer Motive an Bedeutung gewinnen. Infolgedessen steigt die Kongruenz von Glaubenslehren und Einstellungen religiöser Menschen. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Korrelation zwischen allgemeinen Indikatoren und intrinsischen religiösen Motiven in stärker säkularen Gesellschaften ausgeprägter ist (Stavrova & Siegers 2014).
Solche Prozesse sollten sich auch im Zeitvergleich widerspiegeln, wenn die Säkularisierung in Gesellschaften voranschreitet. Zum Beispiel zeigt sich für Westdeutschland, dass der Effekt individueller Religiosität auf Einstellungen zu Migranten sich in den vergangenen vierzig Jahren stark verändert hat. Waren in den 1980er Jahren die Religiösen noch weniger tolerant gegenüber Zuwanderern eingestellt als die Nicht-religiösen, hat sich diese Beziehung im Laufe der Zeit umgekehrt (Siegers im Erscheinen). Spätestens seit den 2010er Jahren zeigen die Religiösen mehr Toleranz als die Nicht-religiösen.
Von Interesse für die Religionssoziologie ist diese Forschung, weil sie Hinweise auf die Frage gibt, wie die Korrelationen zwischen Religiosität und Einstellungen entstehen – also welcher soziale Mechanismus der Korrelation zu Grunde liegt (Pascal Siegers, 2019). Während die Theorie moralischer Gemeinschaften einen Mechanismus von Kontrolle und Sanktion unterstellt, steht bei der Theorie intrinsischer Religiosität die Einsicht in die Richtigkeit und Wichtigkeit der religiösen Normen im Mittelpunkt. Natürlich kann der soziale Mechanismus von den jeweiligen Einstellungen abhängen und muss daher jeweils gesondert empirisch untersucht werden.
Bibliographie:
Allport, G. W., & Ross, J. M. (1967). Personal religious orientation and prejudice. Journal of Personality and Social Psychology, 5(4), 432-443.
Bruce, S. (2006). Secularization and the Impotence of Individualized Religion. The Hedgehog Review, 8(1&2), 35-45.
Halman, L., & van Ingen, E. (2015). Secularization and Changing Moral Views: European Trends in Church Attendance and Views on Homosexuality, Divorce, Abortion, and Euthanasia. European Sociological Review, 31(5), 616-627. doi:10.1093/esr/jcv064
Meulemann, H. (2015). Nach der Säkularisierung : Religiosität in Deutschland 1980-2012.
Pollack, D., & Rosta, G. (2015). Religion in der Moderne : ein internationaler Vergleich.
Siegers, P. (2019). Is the Influence of Religiosity on Attitudes and Behaviors Stronger in less Religious or more Religious Societies? A Review of Theories and Contradictory Evidence. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 71, 491-517. Retrieved from <Go to ISI>://WOS:000472940500018
Siegers, P., Franzmann, S., & Hassan, M. (2016). The religious and spiritual underpinnings of party choice in christian Europe. Electoral Studies, 44, 203-213. Retrieved from <Go to ISI>://WOS:000390180200020
Siegers, P., & Jedinger, A. (2020). Religious Immunity to Populism: Christian Religiosity and Public Support for the Alternative for Germany. German Politics. doi:10.1080/09644008.2020.1723002
Stark, R., Doyle, D. P., & Kent, L. (1980). Rediscovering moral communities: Church membership and crime. Understanding crime: current theory and research, 18, 43-52.
Stavrova, O., & Siegers, P. (2014). Religious Prosociality and Morality Across Cultures How Social Enforcement of Religion Shapes the Effects of Personal Religiosity on Prosocial and Moral Attitudes and Behaviors. Personality and Social Psychology Bulletin, 40(3), 315-333. doi:10.1177/0146167213510951
Stolz, J., Pollack, D., De Graaf, N. D., & Antonietti, J. P. (2020). Losing My Religion as a Natural Experiment: How State Pressure and Taxes Led to Church Disaffiliations between 1940 and 2010 in Germany. Journal for the Scientific Study of Religion. Retrieved from <Go to ISI>://WOS:000597423000001
Taylor, C. (2007). A Secular Age. Cambridge, MA/London, UK: The Belknap Press of Havard University Press.
Voas, D. (2009). The Rise and Fall of Fuzzy Fidelity in Europe. European Sociological Review, 25(2), 155-168.
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