Geflüchtete aus der Ukraine – Erste deskriptive Ergebnisse einer Onlinebefragung in Deutschland und Polen
Vor dem Hintergrund der russischen Invasion der Ukraine und der durch sie verursachten Fluchtbewegung hat GESIS in der zweiten Aprilhälfte 2022 eine Web-Befragung ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland und Polen durchgeführt. Die Rekrutierung der Befragten erfolgte durch Werbeanzeigen auf Facebook und Instagram.
Against the backdrop of the Russian invasion of Ukraine and the subsequent displacement of millions of its citizens, GESIS conducted a web survey of Ukrainian refugees in Germany and Poland in the second half of April 2022. Respondents were recruited through advertisements on Facebook and Instagram.
DOI: 10.34879/gesisblog.2022.60
Mit der Besetzung und Annexion der Krim begann die Russische Föderation im Jahr 2014 einen Konflikt mit der Ukraine, den sie durch die Invasion des Landes am 24. Februar 2022 zu einem offenen Krieg ausgeweitet hat. Bis zum 12. Mai haben in der Folge bereits etwa 6,1 Millionen Personen die Ukraine verlassen, um andernorts Schutz zu finden (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, UNHCR). Zugleich haben die meisten europäischen Länder ihre Grenzen geöffnet und versucht, die Flüchtlinge nach besten Kräften zu unterstützen. Laut der oben genannten UNHCR-Statistik hat allein Polen seit Ende Februar mehr als 3,3 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Für Deutschland berichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass zwischen Ende Februar und Ende April 610.103 aus der Ukraine stammende Personen neu im Ausländerzentralregister erfasst wurden.
Befragung einer schwer erreichbaren Zielgruppe
Zur Koordinierung und Organisation von Hilfsmaßnahmen und als Grundlage politischer Weichenstellungen benötigen Regierende, Behörden, supranationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und andere Akteure aktuelle Informationen über diese Flüchtlinge. Solche detaillierten Kenntnisse können vor allem durch wissenschaftliche Befragungen gewonnen werden. Allerdings ist die Rekrutierung von Flüchtlingen in der aktuellen Situation schwierig, da die betreffende Bevölkerungsgruppe hochmobil ist und mit den üblichen Stichprobenverfahren nicht erreicht werden kann.
Vor diesem Hintergrund hat GESIS in der zweiten Aprilhälfte 2022 eine Web-Befragung ukrainischer Flüchtlinge1 in Deutschland und Polen durchgeführt. Die Rekrutierung der Befragten erfolgte durch Werbeanzeigen auf Facebook und Instagram. Die Umfrage wurde in ukrainischer Sprache realisiert und richtete sich an Erwachsene (18 Jahre und älter) in den beiden genannten Ländern, welche die Ukraine seit Anfang 2022 verlassen hatten. Die Stichprobenziehung mit Hilfe sozialer Netzwerkseiten stellt insbesondere dann eine geeignete Methode zum Sammeln wichtiger Informationen dar, wenn kein anderer Stichprobenrahmen zur Verfügung steht. Gleichwohl ist es notwendig, deutlich die Grenzen dieses nicht-zufallsbasierten Stichprobenansatzes hervorzuheben, dass nämlich deskriptive Ergebnisse von Studien, die ein solches Stichprobenverfahren verwenden, in der Regel nicht auf die untersuchte Gruppe insgesamt verallgemeinert werden können. Folglich können die hier berichteten Ergebnisse, ebenso wie etwa die der kürzlich veröffentlichten Befragung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat, nur auf die Teilnehmenden der jeweiligen Umfrage bezogen werden und treffen nicht notwendigerweise auf ukrainische Flüchtlinge im Allgemeinen zu. Da allerdings verlässlichere Verfahren zur Stichprobenziehung unter neu angekommen Geflüchteten kurzfristig nicht verfügbar sind, können Untersuchungen wie die unsere zumindest dort etwas Licht ins Dunkel bringen, wo andernfalls keinerlei Informationen verfügbar wären. Auch können solche Studien auf Themen, Fragen und Probleme aufmerksam machen, die eine weitere systematische Untersuchung erfordern.
Ausgewählte demografische Merkmale der Stichprobe
Insgesamt haben in der Zeit vom 15. April bis 1. Mai 2022 1.271 erwachsene Zielpersonen an unserer Befragung teilgenommen. Da, soweit nicht ausdrücklich anders angegeben, Befragte mit fehlenden Angaben ausgeschlossen wurden, konzentriert sich die folgende Darstellung auf eine Teilstichprobe von 1.194 Personen. Etwas mehr als die Hälfte dieser Teilnehmer:innen (n=666, 56 Prozent) hielt sich zum Zeitpunkt der Befragung in Deutschland auf, 44 Prozent (n=528) befanden sich in Polen. Bis auf eine Ausnahme waren alle diese Personen entweder in der Ukraine geboren oder besaßen die ukrainische Staatsbürgerschaft.
Wie bereits aus zahlreichen Berichten von UN-Organisationen und Medien hervorgeht, befinden sich Frauen unter den ukrainischen Flüchtlingen in vielen Aufnahmeländern deutlich in der Überzahl. Daher ist es nicht überraschend, dass die große Mehrheit von 88 Prozent der Befragten in unserer Studie weiblich ist. Diese Geschlechterverteilung unter den ukrainischen Flüchtlingen ist zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass es Männern ukrainischer Staatsangehörigkeit zwischen 18 und 60 Jahren derzeit untersagt ist, das Land zu verlassen.
Die Frage, ob Personen allein oder in größeren Gruppen geflohen sind, ist einerseits mit Blick auf die soziale Unterstützung und das psychische Wohlbefinden der Geflüchteten von Bedeutung. Daneben ist sie andererseits aber auch wesentlich, wenn es um die Bereitstellung von Wohnraum und die geografische Verteilung der Betroffenen geht; letzteres vor allem mit Blick auf eine stärkere lokale Konzentration, je mehr abhängige Kinder vorhanden sind. Nur eine Minderheit der Befragten (23 Prozent) in unserer Studie hat die Ukraine allein verlassen. Mehr als drei Viertel befanden sich hingegen in Begleitung von Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten, zu denen bereits vor der Ausreise eine soziale Beziehung bestand. Zudem verließen 60 Prozent der Teilnehmer:innen die Ukraine in Gruppen, denen mindestens ein Kind unter 18 Jahren angehörte. Mehr als ein Fünftel wurde ausschließlich von Minderjährigen begleitet.
Aufenthaltsdauer, behördliche Registrierung, Unterbringung und geografische Verteilung
Mit Hilfe der sozialen Netzwerkseiten ist es uns gelungen, aus der Ukraine geflohenen Personen kurz nach ihrer Ankunft in Polen oder Deutschland zu befragen. Wenngleich unsere Daten für 26 Prozent der Befragten kein gültiges und vollständiges Einreisedatum enthalten, so wissen wir doch von den verbleibenden Umfrageteilnehmenden (n=878), dass vier Prozent weniger als 24 Stunden vor der Befragung angekommen waren. Zehn Prozent hielten sich seit mindestens einem Tag, aber weniger als vier Wochen in einem der beiden Länder auf. Weitere 69 Prozent waren erst seit mindestens vier, aber weniger als acht Wochen in ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsland.
Für die amtliche Statistik und für die Möglichkeit, staatliche Hilfen zu erhalten, ist es wichtig zu wissen, ob Geflüchtete zeitnah bei bzw. von Behörden registriert werden. Bezogen auf Personen, die aus der Ukraine geflohen sind, ist diese Information umso wichtiger, als sie für die Einreise in den Schengen-Raum kein Visum benötigen. Zwölf Teilnehmende unserer Studie hatten die polnische oder deutsche Staatsangehörigkeit, wodurch sich eine entsprechende Meldung erübrigt. Für die verbleibende Stichprobe zeigen sich bei der amtlichen Registrierung deutliche Unterschiede zwischen den Befragten in den beiden untersuchten Ländern (siehe Abbildung 1): Während fast 70 Prozent der Befragten in Deutschland zumindest als Flüchtling registriert wurden oder sogar einen offiziellen Asylantrag gestellt haben, traf dies nur auf 16 Prozent der Befragten in Polen zu. Demgegenüber gaben 67 Prozent der Teilnehmer:innen in Polen an, überhaupt nicht bei oder von Behörden registriert worden zu sein. Im Vergleich dazu war dies nur bei 19 Prozent der Teilnehmenden in Deutschland der Fall.

Eine weitere wichtige Frage betrifft die Unterbringung der Flüchtlinge. Aus individueller Sicht kann die Unterbringung in staatlichen Einrichtungen einerseits den Zugang zu Informationen und direkter Hilfe erleichtern. Andererseits ermöglicht die Unterbringung bei Freunden, Familienangehörigen oder anderen polnischen bzw. deutschen Bürgern aber die Stärkung sozialer Kontakte und einen leichteren Zugang zu informellen Netzwerken. Aus institutioneller Sicht ist diese Frage von Interesse, da sie als Indikator dafür angesehen werden kann, inwieweit Regierungen und Behörden die Geflüchteten selbst mit Wohnraum versorgen müssen oder ob diese Bedarfe von Privatpersonen abgefangen werden. Die Bereitschaft von Millionen privater europäischer Bürgerinnen und Bürger in den Aufnahmeländern, ihre Wohnungen und Häuser für ukrainische Flüchtlinge zu öffnen, ist sicherlich ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Geflohenen. Es ist jedoch auch anzunehmen, dass Privathaushalte diese Solidarität nicht unbegrenzt aufrechterhalten können. Zudem sollte von Flüchtlingen nicht erwartet werden, dauerhaft auf die Privatsphäre einer eigenen Wohnung zu verzichten. Wie Abbildung 2 zeigt, waren nur wenige der Befragten zum Zeitpunkt unserer Studie tatsächlich in offiziellen Flüchtlingsunterkünften oder entsprechenden Notunterkünften untergebracht. Während die deutliche Mehrheit in beiden Ländern bei Privatpersonen unterkam, war der Anteil der Teilnehmer:innen, die entweder bei Freunden, Verwandten oder anderen Privatpersonen wohnten, in Deutschland etwas höher als in Polen. Im Gegensatz dazu übernachteten in Polen deutlich mehr der befragten Ukrainer:innen in Hotels oder Herbergen als dies in Deutschland der Fall war.

Ein großer Teil der Befragten (525 in Deutschland und 350 in Polen) gab auch an, in welchem Bundesland bzw. in welcher Woiwodschaft sie sich zum Befragungszeitpunkt aufhielten. Abbildung 3 zeigt die entsprechenden geographischen Verteilungen. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass das hier genutzte Rekrutierungsverfahren geeignet ist, landesweite Stichproben zu realisieren. Die deutschen und polnischen Teilstichproben enthalten Teilnehmende in allen 16 deutschen Bundesländern und jeder der 16 polnischen Woiwodschaften. Prinzipiell würde das Verfahren zudem eine Quotierung erlauben, mit der größere Teilstichproben in den verschiedenen Regionen realisiert werden könnten. In der vorliegenden Studie konzentriert sich jeweils mehr als ein Drittel der Teilnehmer:innen, für welche die entsprechenden Informationen vorliegen, auf jeweils zwei der betrachteten Regionen. Namentlich auf die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen bzw. die Woiwodschaften Mazowieckie – in der die polnische Hauptstadt Warschau liegt – und Wielkopolskie. Während verlässliche Zahlen für eine Einordnung der berichteten Verteilungen zur Zeit noch fehlen, ist es erwähnenswert, dass Nordrhein-Westfalen und Bayern laut Mediendienst Integration auch die Flächenländer waren, in denen bis Anfang April die meisten Geflüchteten aus der Ukraine registrierte wurden.

Bewertung der erhaltenen Hilfe
In der vorliegenden Studie wurden die Befragten auch gebeten, die bisher von Polen und Deutschland geleistete Hilfe auf einer Skala von eins (sehr unzufrieden) bis sieben (sehr zufrieden) zu bewerten. Das Zufriedenheitsniveau aller Teilnehmenden hinsichtlich der persönlich in ihrem Aufenthaltsland erhalten Hilfe war zum Befragungszeitpunkt hoch. Dabei waren die Befragten in Polen etwas zufriedener (Mittelwert 6,0) als in Deutschland (Mittelwert 5,7). Deutliche Unterschiede zeigten sich jedoch bei der Bewertung der Hilfe, die Polen bzw. Deutschland der Ukraine insgesamt seit Beginn des Krieges am 24. Februar geleistet hat. Die Teilnehmenden in Polen waren mit der Leistung der polnischen Regierung insgesamt sehr zufrieden. Der entsprechende Mittelwert lag mit 6,4 sogar geringfügig über dem für die persönlich erhaltene Hilfe. Demgegenüber wurde die staatliche Unterstützung der Ukraine durch Deutschland mit einem Mittelwert von 4,3 weder als sehr zufriedenstellend noch als besonders unbefriedigend bewertet.
Eine frühere Version des Beitrags wurde am 12. Mai 2022 unter dem Titel „Preliminary findings from an online survey of Ukrainian refugees in Germany and Poland” im EUROPP – European Politics and Policy Blog der London School of Economics auf Englisch publiziert.
An earlier version of this post entitled “Preliminary findings from an online survey of Ukrainian refugees in Germany and Poland” was published in English on May 12, 2022, on the EUROPP – European Politics and Policy blog of the London School of Economics.
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