Die neue Angriffslust im Wahlkampf – Negative Campaigning im deutschen Mehrparteiensystem

Im vergangenen Jahrzehnt sind politische Debatten in Deutschland zunehmend von aggressiven Wahlkampagnen geprägt. Persönliche Angriffe, harte Rhetorik und bewusste Zuspitzungen, sogenanntes Negative Campaigning, machen die politischen Debatten konfrontativer. Unter Negative Campaigning wird jede Form öffentlicher Agitation verstanden, die Kandidat*innen im Wahlkampf gegen ihre Konkurrenz richten. Das kann persönliche Angriffe, programmatische Kritik oder das Hervorheben von Schwächen umfassen. Solche Attacken können kurzfristig Aufmerksamkeit erzeugen und Wähler*innen mobilisieren, aber langfristig auch das Vertrauen in die Demokratie und Institutionen schwächen.
Eine aktuelle Studie von Sebastian Stier et al. geht der Frage nach, wann Kandidat*innen sich für Angriffe auf ihre politischen Gegner*innen entscheiden. Grundlage der Studie ist ein präregistriertes Conjoint-Experiment, das mit über 800 Landtagswahl-Kandidat*innen in Deutschland durchgeführt wurde.
Over the past decade, political debates in Germany have been increasingly characterized by aggressive election campaigns. Personal attacks, harsh rhetoric, and deliberate exaggerations, known as negative campaigning, are making political debates more confrontational. Negative campaigning refers to any form of public agitation that candidates use against their competitors during an election campaign. This can include personal attacks, criticism of their opponents’ policies, or highlighting their weaknesses. Such attacks can generate short-term attention and mobilize voters, but in the long term they can also weaken trust in democracy and institutions.
A recent study by Sebastian Stier et al. examines the question of when candidates decide to attack their political opponents. The study is based on a pre-registered conjoint experiment conducted with over 800 state election candidates in Germany.
DOI: 10.34879/gesisblog.2025.105
Experiment im Wahlkampfalltag
Um die Mechanismen negativer Kampagnen zu verstehen, sollten die Kandidat*innen zwischen zwei hypothetischen Gegner*innenprofilen entscheiden und angeben, wen sie eher angreifen würden. Die Profile unterschieden sich in Eigenschaften wie Geschlecht, ideologischer Nähe, bisherigem Angriffsverhalten oder den erwarteten Folgen eines eigenen Angriffs und wurden zufällig ausgewählt. Der Vorteil dieser Methode: Sie bildet komplexe Wahlkampfsituationen realistisch ab und erlaubt somit präzise Rückschlüsse zum Einfluss einzelner Faktoren. Bemerkenswert ist außerdem, dass nicht Wähler*innen, sondern Kandidierende in einem Mehrparteiensystem befragt wurden. Mit dieser Strategie liefert die Studie neuartige Erkenntnisse für den deutschen Kontext und setzt damit einen wichtigen Kontrast zu den meisten bisherigen Arbeiten, die sich fast ausschließlich auf das US-amerikanische Zweiparteiensystem konzentrieren.
Was zeigt die Studie?
Kandidat*innen handeln strategisch. Sie greifen ihre Gegner*innen vor allem dann an, wenn sie sich davon einen Stimmengewinn versprechen, etwa die Mobilisierung eigener Unterstützer*innen. Umgekehrt wird auf Angriffe verzichtet, wenn die Risiken überwiegen.
Einige gängige Annahmen bestätigten sich nicht. So spielte die relative Position im Wahlkampf, d.h. ob jemand in Umfragen vorne oder zurück lag, kaum eine Rolle für die Angriffslust. Auch, dass in der Forschung zentrale Konzept der Retaliation – die Angst vor Gegenangriffen – erwies sich laut der Autoren als überraschend schwach: Selbst wenn ein Gegenangriff wahrscheinlich war, ließen sich viele Kandidat*innen nicht abschrecken und hielten Attacken weiterhin für lohnend.
Besonders interessant ist nach Ansicht der Forschenden, dass das Profil der Gegner*innen einen starken Einfluss auf das Wahlkampfverhalten der Kandidat*innen hat. Demnach wurden männliche Kandidaten häufiger attackiert als weibliche, offenbar, weil gesellschaftliche Normen und Geschlechterstereotype Angriffe gegen Frauen riskanter erscheinen lassen. Das Geschlecht der Attackierenden selbst hatte vor allem mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit von Gegenangriffen einen Einfluss. Demnach zeigten sich Kandidaten angriffslustiger, wenn mit Vergeltung zu rechnen war, während Kandidatinnen in diesen Szenarien zurückhaltender reagierten – ein Muster, das mit bekannten Unterschieden in der Risikobereitschaft korrespondiert.
Außerdem zeigte die Studie, dass die Unterschiede zwischen Amtsinhaber*innen und Herausforderern sowie die Persönlichkeitsmerkmale der Kandidierenden kaum Einfluss hatten. Entscheidend war vielmehr die ideologische Distanz: Angriffe richteten sich vor allem gegen politisch weit entfernte Gegner*innen, während potenzielle Koalitionspartner*innen geschont wurden.
Die Ergebnisse blieben über verschiedene Bundesländer, Zeitpunkte und Kandidat*innenprofile hinweg stabil, ein Hinweis auf robuste Mechanismen im deutschen Mehrparteiensystem.
Bedeutung der Studie
Die Studie liefert einen Beitrag für das Verständnis moderner Wahlkämpfe in Mehrparteiensystemen wie Deutschland. Entscheidend sind die situativen Konstellationen und die Eigenschaften der Gegner*innen. Negative Campaigning ist entsprechend nicht spontan, sondern auf kalkulierte Entscheidungen zurückzuführen. Kandidat*innen wägen Kosten und Nutzen ab und orientieren sich stark am Verhalten ihrer Kontrahent*innen. Das Wahlkampfklima entsteht somit nicht allein durch individuelle Politikstile, sondern vor allem durch dynamische Wechselwirkungen, die sich im Verlauf einer Kampagne hochschaukeln können.
Stier, S., Oschatz, C., Clemm Von Hohenberg, B., Maier, J., Nai, A., & Kirkizh, N. (2025). When do candidates “go negative”? A conjoint analysis to unpack the mechanisms of negative campaigning. Electoral Studies, 93. https://doi.org/10.1016/j.electstud.2024.102894
Dieser Beitrag wurde von Inke Ammermann und Dr. Sophie Zervos mit Unterstützung von ChatGPT 4.1 auf Grundlage der wissenschaftlichen Originalpublikation erstellt und von einem der Forschenden geprüft.
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