Die Messung sozialstruktureller Merkmale im Wandel der Zeit

Sozialstrukturelle Merkmale wie Familienstand, Bildung oder Erwerbstätigkeit werden in vielen Umfragen erfasst. Sie unterliegen, ähnlich wie Einstellungen und Werte auch, dem gesellschaftlichen Wandel und müssen daher an sich ändernde Realitäten und an unseren sich ebenfalls verändernden Blick auf diese angepasst werden. Beispielhaft kann hier die Diskussion zur Einführung einer dritten Geschlechtskategorie in Fragebögen genannt werden. Gleichzeitig ist es für den Vergleich dieser Merkmale zwischen verschiedenen Umfragen hilfreich, wenn sie vergleichbar gemessen und kodiert werden. Diese Ziele stehen in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis zueinander.
Dieser Beitrag widmet sich der Erhebung und Harmonisierung sozialstruktureller Merkmale im Licht des sozialen Wandels, wie sie kürzlich im virtuellen GESIS-Symposium „Sozialstrukturelle Merkmale in Umfragen: Erhebung, Kodierung, Harmonisierung“ diskutiert wurden.

Socio-structural characteristics such as marital status, education or employment are measured in many surveys. Like attitudes and values, they are affected by social change and therefore need to be adapted to changing realities as well as to how we look at them. An example is the discussion on the introduction of a third category for the question on respondents’ sex. At the same time, for comparisons of these characteristics across different surveys, it is helpful if they are measured and coded in a comparable way. These goals are obviously in conflict with each other. This blog post deals with the measurement and harmonization of socio-structural characteristics in the light of social change as also discussed in the recent virtual GESIS symposium “Socio structural characteristics in surveys: collection, coding, harmonization”.

DOI: 10.34879/gesisblog.2020.23


Die Relevanz sozialstruktureller Merkmale in Umfragen

Sozialstrukturelle Merkmale verorten Individuen, Paare, Haushalte oder Familien in der sozialen Struktur der Gesellschaft. Geschlecht, Alter, Bildung, Migrationshintergrund, Familienstand, Erwerbsstatus und Einkommen sind Beispiele für diese Merkmale. Sie bilden objektive Unterschiede und Beziehungen in der realen Welt ab, sind aber auch nicht unabhängig von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und Wertorientierungen. Zudem stehen diese Merkmale häufig mit Privilegien und Benachteiligungen in Beziehung.

Jeder Mensch ist in die soziale Struktur der Gesellschaft eingebettet und sein Verhalten, Erleben und seine Einstellungen werden durch diese Positionierung beeinflusst. Daher werden sozialstrukturelle Merkmale in praktisch jeder Umfrage erfasst – wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Für die Sozialstrukturforschung stehen diese Merkmale im Zentrum des Forschungsinteresses: Hier geht es darum, zu erklären, wie sich soziale Strukturen verändern, und wie sie mit verschiedenen Bereichen unserer Welt – dem Arbeitsmarkt, der Gesundheit, der Umwelt, der Politik etc. – in Beziehung stehen. In anderen Forschungsgebieten werden diese Merkmale genutzt, um Verhaltens- und Einstellungsunterschiede zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. Männern und Frauen, jungen und alten Menschen) zu untersuchen oder sozialstrukturelle Einflüsse als sog. “Drittvariablen” statistisch zu kontrollieren. Die amtliche Statistik erfasst – z.B. mit dem Mikrozensus – Informationen über die Sozialstruktur Deutschlands, um für Gesetzgeber, Kommunen und andere Akteure wichtige Datengrundlagen zur Verfügung stellen zu können. Alle diese Zwecke erfordern eine gute – d.h. eine zuverlässige und valide – Messung sozialstruktureller Merkmale.

Herausforderungen durch gesellschaftlichen Wandel

Sozialstrukturelle Merkmale und ihre Messung unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel: Entweder, weil sich die gesellschaftliche Realität selbst ändert, oder unsere Sicht auf diese Realität. Gesellschaftliche Veränderungen können dabei langsamer oder schneller vonstattengehen. Die recht plötzlich auftretende Corona-Pandemie führte beispielsweise zu einer zunehmenden Vermischung von Erwerbstätigkeit und Privatleben, u.a. durch verstärktes Arbeiten im Homeoffice. Um dadurch bedingte Änderungen in den Bereichen der Erwerbstätigkeit und der Arbeitsbedingungen in Fragebögen besser abzubilden, benötigen Umfragen andere oder gar neue Fragebogenitems. Denkbar sind hier Fragen zum Arbeitsort, zur Arbeitszeit und auch zur Tätigkeit (z.B. manuell vs. digital). Ein Beispiel für eine schleichende Änderung ist die immer größer werdende Gruppe der Migrant*innen der dritten Generation. Eine Herausforderung in der Migrations- und Integrationsforschung besteht daher aktuell darin, diese Gruppe in Umfragen zu identifizieren, um langfristige Integrationsergebnisse untersuchen zu können.

Manchmal werden Anpassungen in der Messung sozialstruktureller Merkmale auch durch gesetzliche Änderungen angeregt. Die neueingeführte Geschlechtskategorie „divers“ im Personenstandsregister und die Ermöglichung der „Ehe für alle“ ziehen die Fragen nach sich, ob und wenn ja wie sich damit auch die Erhebung dieser Merkmale in Umfragen ändern sollte. Hinsichtlich der neuen Geschlechtskategorie „divers“ wird beispielsweise aktuell erforscht, ob die Einführung dieser Kategorie die Datenqualität beeinflusst. Erste Ergebnisse aus verschiedenen Studien zeigen, dass die Einführung der dritten Geschlechtskategorie “divers” nicht zu höheren Abbruchquoten führt. Ebenso wird “divers” nicht unverhältnismäßig oft angegeben und es gibt so gut wie keine inkonsistenten Geschlechtsangaben, wenn Befragte zwei Mal nach dem Geschlecht gefragt werden. Obwohl die Geschlechtsangabe “divers” nur auf einen sehr kleinen Anteil der Befragten zutrifft, wird die Implementierung dieser Kategorie in den Erhebungsinstrumenten von vielen Akteuren inzwischen als wichtig erachtet, damit diese Gruppe nicht gezwungen wird, eine für sie unpassende (nämlich binäre) Geschlechtskategorie auszuwählen. Für den Umgang mit den so gewonnenen Daten sind jedoch angepasste Strategien hinsichtlich der Anonymisierung, Analyse und auch zur Gewichtung erforderlich.

Diese Beispiele zeigen deutlich den bestehenden Weiterentwicklungsbedarf bei verschiedenen Erhebungsinstrumenten für sozialstrukturelle Merkmale, um gesellschaftliche Veränderungen und ihre Konsequenzen dann auch besser – d.h. valider – empirisch untersuchen zu können. Nicht zuletzt ist eine Anpassung der Erhebungsinstrumente an die Lebenswirklichkeit und Identitäten der Befragten essenziell auch für die Teilnahmebereitschaft an Umfragen. Jedoch sind Anpassungen in den Erhebungsinstrumenten oder Neuentwicklungen häufig schwierig für Studien, die bereits mehrfach in der Vergangenheit Daten erhoben haben und ihre Zeitreihe intakt halten wollen. Folgerichtig werden in diesem Fall nur kleinere und absolut notwendige Anpassungen an den Erhebungsinstrumenten vorgenommen. Somit können zwar gesellschaftliche Veränderungen mit den gleichen Instrumenten in der Langzeitperspektive gut betrachtet werden. Allerdings können gesellschaftliche Veränderungen, die durch vorhandene Instrumente nicht erfasst werden, nur durch den Einsatz zusätzlicher Instrumente beobachtet werden. Dazu muss entweder eine größere Zahl und Vielfalt von Umfragen durchgeführt oder vorhandene Fragebögen müssen verlängert werden.  Die langfristig steigende Anzahl an längsschnittlich angelegten Umfrageprogrammen kann auch als Reaktion hierauf und als großer Erfolg für die Umfrageforschung gewertet werden, da für diese Daten meist keine anderen Datenquellen zur Verfügung stehen.

Herausforderungen in der Vergleichbarkeit

Ein anderer Aspekt, der im Gegensatz zu Anpassungen und Neuentwicklungen von Erhebungsinstrumenten aufgrund des sozialen Wandels steht, ist Standardisierung. Standardisierte Erhebungsinstrumente für sozialstrukturelle Merkmale steigern die Vergleichbarkeit zwischen Umfragen und erleichtern das Zusammenführen (Poolen) und damit die Nachnutzung der Daten verschiedener Umfragen. Häufig gibt es jedoch Unterschiede in der Art und Weise, wie sozialstrukturelle Merkmale erhoben werden. Unterschiedliche inhaltliche Interessen bzw. Analyseziele der Studien, verschiedene Populationen sowie vorhandene Zeitreihen begründen häufig – aber nicht immer – unterschiedliche Messinstrumente. Deutsche Teilstudien von internationalen Umfragen müssen darüber hinaus internationale Vorgaben auch für die Messung sozialstruktureller Merkmale umsetzen. Eine Möglichkeit, vorhandene, nicht vergleichbare Daten über die Zeit oder über verschiedene Studien vergleichbar zu machen, ist ex-post Harmonisierung. Dabei werden unterschiedlich erhobene Merkmale durch Umrechnung und Rekodierung auf einen “gemeinsamen Nenner” gebracht. Dies ist jedoch oftmals recht aufwändig. Hierzu gibt es daher zunehmend themenspezifische Projekte, wie bei GESIS z.B. HaSpaD zur Harmonisierung und Synthese von paarbiografischen Daten in Deutschland, oder ONBound, wo internationale Daten zur nationalen und religiösen Identität harmonisiert werden. Manchmal finden wir aber auch so große Unterschiede zwischen den erfassten Konzepten oder Erhebungsinstrumenten, dass diese nicht vergleichbar sind und somit eine ex-post-Harmonisierung über die Umfragen hinweg nicht möglich ist.

Für Anpassungen und Neuentwicklung von Erhebungsinstrumenten, insbesondere wenn sie durch gesetzliche oder anderweitige gesellschaftliche Änderungen dringend erforderlich werden, ist es daher wünschenswert, zu einem größeren Austausch zwischen den Umfragen zu kommen. Verschiedene Möglichkeiten können dann gemeinsam diskutiert, Teststrategien koordiniert, und wenn möglich am Ende sogar besser aufeinander abgestimmte oder gar standardisierte Instrumente genutzt werden.

GESIS-Symposium und Teilprojekt von KonsortSWD

Diese und andere Themen wurden im Rahmen des virtuellen GESIS-Symposiums „Sozialstrukturelle Merkmale in Umfragen: Erhebung, Kodierung, Harmonisierung“ (28.9. – 1.10.2020) ausführlich diskutiert. Die große Zahl der Teilnehmenden aus verschiedensten Bereichen der Umfrageforschung, die lebhaften Diskussionen insbesondere zum dritten Geschlecht und der Erfassung von Familien- und Lebensformen sowie der Wunsch nach einem regelmäßigen Austausch, spiegeln das große Interesse an diesen Themen wider. Im Rahmen des Konsortiums für die Sozial-, Verhaltens-, Bildungs-, und Wirtschaftswissenschaften (KonsortSWD), Teil der im Aufbau befindlichen Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), wird GESIS in den kommenden Jahren Möglichkeiten für eine stärkere Vernetzung verschiedener Institute und Studien aufgreifen, um die Harmonisierung sozialstruktureller Merkmale über Umfragen hinweg voranzubringen.


Hier finden Sie weitere Informationen zu sozialstrukturellen Merkmalen bei GESIS und zu KonsortSWD

Bei Fragen kontaktieren Sie uns gerne (verena.ortmanns@gesis.org oder silke.schneider@gesis.org).

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