Datafying Justice – Wie ist es um die amtlichen Rechtspflegestatistiken bestellt?

Justitia muss die Rechtswirklichkeit kennen, damit Gerichte, Staatsanwaltschaften und Soziale Dienste der Justiz ihre Arbeit bestens informiert erledigen können. In der Realität aber fehlen für viele Bereiche Daten, vieles liegt im Dunkelfeld. In diesem Text geben wir einige Beispiele.
Justice must know the legal reality so that courts, public prosecutors’ offices and social services of the judiciary can do their work in the best possible way. In reality, however, data is lacking for many areas, and many things lie in the dark. In this text, we give some examples.
DOI: 10.34879/gesisblog.2022.62
Justitia ist blind
Das ist für Entscheidungen von Gerichten im Hinblick auf soziale Stellung und etwaige Diskriminierung wünschenswert. Jedoch sollte Justitia nicht ohne Kenntnis der Rechtswirklichkeit sein. Vielmehr müssten hier die Daten optimal aufbereitet und ständig analysiert werden. Allerdings ist die Datengrundlage über rechtliche Entscheidungen und deren Ausgang und Folgen – und damit die Grundlage für kriminalpolitische Entscheidungen – dürftig. Und das, obwohl jede gerichtliche Entscheidung eine hohe Eingriffsintensität für den Verurteilten oder die Verurteilte hat.
Strafen sind das stärkste Mittel, das der Rechtsstaat zur Verfügung hat, um auf Normabweichung zu reagieren. Mit ihrer Verhängung sind positive (Normbestärkung, Besserung) und negative (Abschreckung) Ziele verbunden. Man sollte annehmen, dass diese – insbesondere der Freiheitsentzug – wohl dokumentiert, evaluiert und nachgehalten werden. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus und für viele Bereiche fehlen genaue Daten und damit können keine genauen Aussagen getroffen werden. Gerade zur Strafvollstreckung fehlen (mit Ausnahme der – wenig beinhaltenden – Strafvollzugsstatistik) weitgehende statistische Daten. In diesem Text geben wir einige Beispiele.
Zuständigkeit der Bundesländer führt zu fehlenden Zahlen
Die Führung der Strafrechtspflegestatistiken beruht auf (bundeseinheitlich koordinierten) Verwaltungsanordnungen bzw. Durchführungsbestimmungen, die von den zuständigen Landesjustizverwaltungen jeweils für den eigenen Geltungsbereich erlassen worden sind. Einzelne Strafrechtspflegestatistiken sind in den Bundesländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt worden. Denn die Entscheidungskompetenz, eine solche Statistik ein- und durchzuführen, liegt bei den Bundesländern. Damit gibt es keine bundeseinheitlichen Daten zu wichtigen Fakten der Strafrealität in Deutschland.
Bewährungshilfestatistik
Rund ein Drittel aller zur Bewährung verhängten Strafen werden widerrufen und werden schließlich doch verbüßt. Eine Quelle für diese Zahl müssen wir schuldig bleiben, denn es handelt sich um Schätzungen und Erfahrungswerte. Die Bewährungshilfestatistik hat, ebenso wenig wie die meisten anderen Strafrechtspflegestatistiken, keine bundesgesetzliche Grundlage.
Man hält es kaum für möglich, aber tatsächlich ist Deutschland – neben den Ländern Albanien, Bosnien-Herzegowina, Liechtenstein, Ungarn und San Marino – eines der europäischen Länder, das für die Bewährungshilfe und Führungsaufsicht keine Daten an die vom Europarat geführte Statistik SPACE II liefern kann. Wie kam es dazu?
Die Einführung der Bewährungshilfestatistik wurde 1962 von der Konferenz der Justizminister beschlossen. Diese wurde in allen alten Bundesländern ab 1963 eingeführt. Allerdings bröckelte die Einheitlichkeit schnell. Seit 1992 wird die Führung der Bewährungshilfestatistik in Hamburg ausgesetzt. In den neuen Bundesländern wurde die Statistik bislang nur in Brandenburg (1993) und in Mecklenburg-Vorpommern (1995) eingeführt.
Aufgrund der fehlenden Erhebung und / oder Veröffentlichung in einigen Bundesländern und dem Umstand der verspäteten Datenlieferung, hat das Bundesamt für Statistik nach dem Berichtsjahr 2011 die bundeseinheitliche Zusammenstellung (die schon immer unvollständig war aufgrund der fehlenden Datenzulieferung) der Bewährungshilfestatistik eingestellt.
Auf Länderebene wird die Bewährungshilfestatistik weiterhin in allen Ländern des früheren Bundesgebietes – ausgenommen Hamburg – sowie in Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern geführt und veröffentlicht.
Führungsaufsicht
Die Führungsaufsicht als ambulante Maßregel der Besserung und Sicherung kann nach § 68 I StGB angeordnet werden oder nach § 68 II StGB in Verbindung mit den dort genannten Vorschriften kraft Gesetzes eintreten. Als Maßregel der Besserung und Sicherung stehen damit Haftentlassene auch nach dem Ende ihrer Freiheitsstrafe unter staatlicher Aufsicht.
Auch bei der Statistik zur Führungsaufsicht ist die aktuelle Situation nicht rosig. Im Abschlussbericht zum runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ aus 2011 wird gefordert: „Der Runde Tisch spricht sich daher für die Einführung einer Statistik aus, die alle Fälle der Führungsaufsicht erfasst.“1 Aber passiert ist bisher nichts, lediglich einzelne Bundesländer veröffentlichen die Zahlen.
Seit 2008 erhebt der DBH – Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik e.V. selbst Daten zur Führungsaufsicht. Hierzu werden alle 16 Landesjustizverwaltungen mit der Bitte angeschrieben, Führungsaufsichtsfälle (Anzahl an Personen unter Führungsaufsicht) zu einem bestimmten Stichtag im Jahr zuzusenden.
Soweit so gut, könnte man meinen – jedoch: Die Erfassung und Verarbeitung der jeweiligen Daten erfolgt durch die Landesjustizverwaltungen. Eine bundesweit abgestimmte und einheitliche Erfassungssystematik besteht bisweilen nicht. So werden beispielsweise in den Bundesländern unterschiedliche Stichtage für die „Jahresmeldung“ verwendet. Für die jeweiligen Jahre liegen dem DBH-Fachverband gemeldete Zahlen zum Stichtag 30.06. oder 31.12. eines Jahres vor.
Durch die vorliegenden Zahlen lassen sich zwar annäherungsweise Aussagen über das Ausmaß der Anwendung der Führungsaufsicht treffen, jedoch können diese nicht qualitativ interpretiert werden. Über die Gründe der Entwicklung der Führungsaufsichtsfälle bzw. der unterschiedlichen Ausprägung der Führungsaufsichtsfälle in den einzelnen Bundesländern kann lediglich spekuliert werden, valide Aussagen lassen die vorliegenden Daten nicht zu. Eine differenzierte Betrachtung der Führungsaufsichtsfälle, beispielsweise nach Alter, der Rechtsgrundlage der Unterstellung, der Anzahl neuer bzw. beendeter Unterstellungen, der Angabe zur Dauer der Unterstellung, der Art und Anzahl erteilter Weisungen, die Anzahl der Strafanträge und Widerrufe wäre sehr zu begrüßen.
Ersatzfreiheitsstrafe
Zehn Prozent der wegen einer Freiheitsstrafe Gefangenen in Deutschland sind dort, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben; sie müssen eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Obwohl die Geldstrafe die Hauptstrafe ist (mehr als 85 % der Verurteilungen), ist über deren Tilgung in der Statistik nichts zu finden; nicht wie viele Geldstrafen bezahlt werden und auch nicht, wie viele in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden. Wie viele Menschen treten jedes Jahr eine solche Strafe an? Wegen welchen Delikten sitzen sie in Haft? Wie lange bleiben sie? Wir wissen es schlicht nicht, diese Zahlen sind im Dunkelfeld und können nur durch Studien in einzelnen Bundesländern2 oder Gefängnissen erhoben werden. Zuletzt waren es 56.000 Fälle. Aber, diese Zahl ist mittlerweile 20 Jahre alt. Seither wird aufgrund einer Statistikänderung in den Gefängnissen nicht mehr erhoben, wie viele Menschen jährlich eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten. In Mecklenburg-Vorpommern sind es mehr als 40 % aller Zugänge.3 Die häufigsten Delikte sind kleine Eigentumsdelikte und Schwarzfahren.
Fazit
Im Koalitionsvertrag vom 19.3.2018 hat sich die damalige Bundesregierung klar zu einer evidenzbasierten Kriminalpolitik positioniert: „Wir treten für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik ein. Wir wollen, dass kriminologische Evidenzen sowohl bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen als auch bei deren Evaluation berücksichtigt werden.“4 Hieraus ist die Gründung des Nationalen Zentrums Kriminalprävention (NZK) erfolgt, das empirisches Wissen über Kriminalität und Strafe zusammenstellen sollte. Die Projektförderung ist zum 31. Dezember 2021 ausgelaufen, das NZK wurde aufgelöst. Der Rat für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hat die hier dargestellten Versäumnisse bereits im Jahr 2020 bemängelt und darauf aufmerksam gemacht, dass „Gesetzgeber, Wissenschaft und Praxis valide und gut ausgebaute Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik … [benötigen]“.5 Davon sind wir allerdings (wieder) weit entfernt. Wir können uns dieser Forderung nur anschließen, es besteht Handlungsbedarf!
References
- Bundesministerium der Justiz/Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/ Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2011): Abschlussbericht Runder Tisch. Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich. Berlin.
- Bögelein, N./ Ernst, A./ Neubacher, F. (2014): Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen. Evaluierung justizieller Haftvermeidungsprojekte in Nordrhein-Westfalen. Baden-Baden: Nomos
- Bögelein, N./ Glaubitz, C./ Neumann, M./ Kamieth, J. (2019): Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 102, Heft 4, S. 282-296.
- Koalitionsvertrag vom 19.3.2018 zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode im Bund, Zeile 6289-6291.
- https://www.kriminalpraevention.de/news-im-detail/nzk-beendet-arbeit-am-31-dezember-2021.html
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